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Alles eine Sache der Wahrnehmung

Autorenbild: Dirk_CarolusDirk_Carolus

Ich sitze in einer schummrig beleuchteten Kabine eines Tonstudios im Berliner Süden. Soll hier mit einer Redakteurin einen Podcast (neudeutsch für: streambare Unterhaltung zweier Menschen) zum Thema Online-Handel und seine Tücken aufnehmen. Die Kabine gegenüber, nur durch eine Plexiglasscheibe getrennt, sieht ähnlich aus wie meine. Nur etwas heller. Im Dämmerlicht dahinter erkenne ich einen Techniker, der irgendwie lustlos an irgendwas herumdreht.

„Nicht mein Problem“, dachte ich.


Die Redakteurin betrat den Raum. Wir hatten uns schon kurz zuvor zum Warm-up getroffen. Nette Dame. So im Stil von Linda de Mol. Nicht mehr taufrisch, aber keck. Nicht mehr Püppchen, aber noch immer eine Puppe. Die hohen Hacken konnten die schlechtsitzende Bluse visuell nicht wirklich kaschieren. Edding statt Kajal scheint auch 2020 noch en vogue zu sein. „N’ büschen dazwischen“, würde Ina Müller sagen. Für mich ne MILF und fertig.

Kurzes Geplänkel über „Warum haben Sie diesen Weg gewählt?“, „Wie lange machen Sie das schon?“, „Was sind Ihre größten Herausforderungen?“ bis hin zu „Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“ – das gesamte Register des heutigen Plakativ-Journalismus wurde gezogen, und ich beantwortete jede dieser Fragen relativ lässig, jovial, aber auch kompetent. Es ermüdete mich. Zunehmend.


Der Plot war durch. Wir verabschiedeten uns. Ich wünschte der Dame einen schönen Abend und betrat den hell erleuchteten Flur zu den Fahrstühlen.

„Herr Carolus – eins noch. Was war für Sie der schlimmste Tag in Ihrem Online-Business?“

Ich war schon auf dem Weg nach draußen, als die Frage kam:

„Was war für Sie der schlimmste Tag?“

Ich blieb vor der Fahrstuhltür stehen, sah auf die flackernde Taste. Ein rotes Blinken, ein Piepen alle paar Sekunden. Stockwerk für Stockwerk. Drei, vielleicht fünf Sekunden Zeit für eine Antwort, die nicht zu viel preisgab. Eine Antwort, welche, selbst wenn sie gesendet werden würde, nicht schädlich für das eigene Image wäre.

Ich hatte bislang schon zu viel gesehen.

Die Fahrstuhltür öffnete sich, und ich drehte mich, mit einer Hand die Tür aufhaltend, noch einmal um. Sie stand, mit einem Block bewaffnet, mitten im Flur und hatte nun eine schwarze Hornbrille aufgesetzt. Durch ihren breitbeinigen Stand war ihr Rock am Bein etwas geöffnet. Nicht viel, aber doch genug.

MILF, dachte ich wieder, während mir Gedanken über Abmahnungen, Gier, Neid und Juristen-Kauderwelsch durch den Kopf jagten.

„Rückblickend betrachtet immer der nächste Tag.“

Ich grüßte kurz mit zwei Fingern am Kopf und sagte:

„Tschüss.“


Der schlimmste Tag

Später im Hotelzimmer. Ich saß auf der Veranda und starrte in den absolut dunklen Abendhimmel. Nicht ein Stern. Pures Schwarz.

Einen wirklich deliziösen Whiskey hatte ich im Glas. Bushmills 16 Jahre Irish Single Malt, den mir der Barkeeper empfohlen hatte. Warm und erdig. Aber nicht brennend im Abgang.

Ich dachte kurz über den Plot nach, und dann kam diese Frage wieder auf:

„Was war für Sie der schlimmste Tag…?“

In einer Dekade? In einem Leben? In einer kurzen Spielzeit oder in einer Serien-Dynastie von bislang vier Leben, an denen ich mich immer noch erfreuen kann? An jedem einzelnen dieser Leben.


Es ist immer nur eine Sache der Wahrnehmung.

Schlimm? Schlimm? Im Vergleich zu was?

Ich nahm einen Schluck, warm und erdig, und sah in den Himmel. Kein einziger Stern.

Ich dachte an die Terrasse bei Boston Legal. Alan Shore (James Spader) und Denny Crane (William Shatner) philosophieren bei einer guten Zigarre und einem noch besseren Scotch über den Tag im Allgemeinen und den Sinn des Lebens im Besonderen.

Der schlimmste Tag war wann?

Als ich verstand, dass meine tablettensüchtige Mutter über Jahre ein Trugbild einer funktionierenden Firma und Familie erschaffen hatte. Der Tag des Todes meines Vaters.

War es der Tag, als einem Kollegen direkt neben mir beide Beine gebrochen wurden? Oder war es der Tag, als ich allein mit einem Kollegen vor einer mit Keulen bewaffneten Meute im Großen Burstah in Hamburg stand und die Waffe zog?

War es das Erkennen und Verstehen, mit 21 Jahren plötzlich eine Waise zu sein?

Hatte es etwas mit dem brennenden Obdachlosen zu tun, für den ich nichts mehr tun konnte? Oder war es schlichtweg die Ansage der Götter in Weiß, die mir schonungslos sagten, dass ich wohl nie wieder gehen werde?


Gute und Böse

Ich war erneut in die Lobby gegangen, um mir noch so einen Bushmills zu holen.

Ein junger Mann und eine extrem hübsche Frau stritten sich lautstark auf Russisch. Interessiert schaute ich rüber. Klar – zuerst die Frau gescannt, dann zum Kerl geblickt.

Seine Mimik, Gestik, Körpersprache – alles wie ein geprügelter Hund.

Wir kamen irgendwann ins Gespräch. Der Tenor der Diskussion der beiden war simpel: Er wollte noch einmal Berlin bei Nacht erleben (letzter Abend). Sie war zu betrunken und wollte … na ja … lieber kuscheln.


Nun stand ich gegen 21 Uhr wieder draußen vor dem Hotel. Der junge Mann von vorhin war allein und sichtlich angefasst. Das folgende Gespräch ergab:

Er heißt Jason. Ist 23 Lenze alt und gebürtig aus Kalifornien, USA. US-Soldier in Kuwait und auch im Irak dabei. Special Forces – all dieser Kram. Das hatte ihn gebrochen – wen nicht?

Wenig später wurde er entlassen. Nichts ging mehr.


Zurück in meinem Zimmer. Der fast welke Whiskey tat immer noch gut.

Die Nacht war schwarz wie im Arsch. Nichts hatte sich geändert. Die Welt war etwas weitergelaufen. Aber wen interessiert das schon?

Gut oder Böse?

Macht es wirklich einen Unterschied, ob du eine Waffe trägst oder ein iPad? Drohnen zünden Raketen per Mausklick. Börsen reagieren auf Mausklick. Regierungen werden per Mausklick erschaffen oder dirigiert.

Millionen Menschen verhungern, weil ein einziges digitales Dokument fehlt – oder fehlen soll.

Bergbau und Atomstrom sind jetzt böse. Elektrizität ist jetzt das Gute.

Ich nehme noch einen Schluck von dem Stoff, bevor der auch verboten wird.

Eine Zigarre aus der Lobby gönne ich mir auch noch.


Der Tag ist jung.

Das Morgengrauen beginnt.

Warum heißt es eigentlich Grauen?

Was ist wirklich böse? Und wann wird etwas Böses gut?

Wahrscheinlich alles nur eine Frage der Wahrnehmung.

Oder die Sicht auf eine Medaille. Die mit den zwei Seiten.

Und es gibt nur diese eine Seite, auf der du stehst.


Der Bushmills ist leer.

Die Nacht vorbei.

Guten Morgen, Welt.

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