Tiefschwarz. RAL 9005.
- Dirk_Carolus
- 13. Juli 2023
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 15. März
Hellbraun ist die Flüssigkeit in meinem Glas.
Ein kurzes, kleines Whiskyglas.
Wenn ich irgendwo an einer Bar sitze, nehme ich auch gern diese Gläser mit Stiel. Die wie ein erhöhter Cognac-Schwenker aussehen. Ist mir hier zu viel Firlefanz.
Ein Steak, medium, bleibt ein Medium-Steak.
Ganz gleich, auf welchem Teller es serviert wird.
Die Zeit, die Außentemperatur oder der jeweilige Gesprächspartner können und werden am idealen Punkt dieses Steaks etwas ändern.
Aber das liegt nicht am Steak.
Nur an den Umständen.
Irgendwann einmal war es perfekt.
Genau wie jetzt mein Whisky. Bernsteinfarben. Smooth. Leicht torfig. Rau im Mund. Sanft im Abgang.
Der Rauch meiner Zigarre nebelt über den Tisch. Weniges in meinem Leben ist so klar umrissen wie ein perfektes Steak oder ein guter Whisky.
Geht oder geht nicht.
Schwarz ist schwarz.
Sicher, es gibt Hunderte von Schattierungen, Grautöne.
Aber es gibt nur dieses eine Schwarz.
RAL 9005. Tiefschwarz.
Nicht RAL 9003. Nicht 8022.
Es gibt nur ein Schwarz.
So, wie es nur ein Weiß gibt.
Kein Licht ohne Schatten. Kein Leben ohne Tod.
Und wenn es Gott gibt, dann gibt es genauso sicher eine Kraft auf der Gegenseite.
Ebenso klar definiert ist der Tod.
Nicht der Tod als solches, sondern der Zeitpunkt.
Die Sekunde, in der das Leben endet.
Nicht der zur Unkenntlichkeit verbrannte Penner in typischer Fechter-Stellung.
Nicht die alten Menschen, die einsam in ihrer Wohnung verrecken, bis der Gestank sie verrät.
Nicht die zerfetzten Unfalltoten.
Nicht die zerplatzten Leiber, die sich vom Hochhaus geworfen haben.
Das Leben ist da längst weg.
Übrig bleiben Tristesse, Blut und Fragen.
Was ich meine, ist das Brechen der Iris.
Die Nanosekunde zwischen Leben und Tod.
Dieses letzte Einatmen ohne Ausatmen.
Oder eben umgekehrt.
Alles danach ist anders.
Es spielt keine Rolle, ob du das Tier oder den Menschen kennst, der vor dir stirbt.
Es ist endgültig.
Nicht revidierbar.
Ein Augenblick, der ebenso faszinierend wie erschreckend ist.
Einmal erlebt, lässt er dich nie wieder los.
Ein Baby.
Gerade ein paar Monate alt.
Stirbt in deinen Armen.
Verhungert.
Die Mutter drei Meter weiter. Völlig zugekifft.
Ein Mann, unterwegs zur Arbeit.
Unter einem LKW eingeklemmt.
Ich hatte meine Faust tief in seiner Schulter, versuchte, die Blutung zu stoppen.
Sein Arm war weg. Einfach abgerissen.
Er hatte keine Schmerzen.
Sah durch mich hindurch, redete unentwegt über seine Tochter.
Atmete aus und starb.
Ein junges Mädchen. Vielleicht 17 Jahre.
Gebrochenes Zungenbein nach versuchter Vergewaltigung.
Krallte sich noch in meine Jacke.
Und starb. Einfach so.
Die Augen.
Am schlimmsten sind die Augen. Die vergisst man nie.
Als Kind hatten wir Blacky. Ein schwarzer Pudel.
Staupe.
Er schleppte sich zum Sterben in die Feldmark hinter unserem Haus.
Mein Vater und ich suchten ihn.
Irgendwann hörten wir sein Winseln.
Er saß in einer kleinen Sandgrube.
Mein Vater kniete sich neben ihn. Streichelte ihm den Kopf.
Ich saß vor Blacky. Er leckte meine Hand.
Mein Vater bewegte ruckartig seine Hände.
Es knackte. Blacky zuckte noch einmal.
Seine tiefschwarzen Augen färbten sich milchig grau.
Er atmete nicht mehr.
Nie wieder
wollte ich etwas an meiner Seite haben, das sterben kann.
Rudi war mein zweiter Hund.
Eher zufällig.
Blacky war seit fast drei Jahrzehnten tot.
Der kleine Sohn meiner damaligen Lebensgefährtin wollte einen Hund.
Ich wusste, dass es an mir hängenbleiben würde.
Wir fanden ihn in einer Auffangstation.
Rudi war so klein, dass ich ihn mit einer Hand halten konnte.
Konnte ja keiner wissen, dass er ein Dobermann-Labrador-Mix war.
Und entsprechend wachsen würde.
Dann kam Hank. Ein Pitbull-Mix.
Große, fiese Milchzähne. Ein braunes und ein weißes Auge.
Hank und Rudi wurden unzertrennlich.
Best Buddys.
Rudi schlank, drahtig, intelligent und schnell.
Hank breit, untersetzt, kräftig und clever.
Perfektes Duo.
Nicht dieser Zirkus-Quatsch mit brennenden Reifen oder Gänse apportieren.
Links. Rechts. Halt. Zurück. Sitz. Platz.
Schussecht. Wesensstark.
Mehr brauchte es nicht.
Rudi rannte über die Straße.
Ein Golf traf ihn frontal.
Er lag auf der Seite im Rinnstein.
Hank über ihm auf dem Bürgersteig.
Leckte ihm das Blut von der Schnauze.
Rudi starb in meinen Armen.
Ich sah seine Iris brechen.
Sein letztes Ausatmen, bevor seine breite Brust einfiel.
Hank hat danach nie wieder mit anderen Hunden gespielt.
Nie wieder auch nur einen begrüßt.
Lag nur noch im Flur.
Kopf zur Eingangstür.
Ich musste ihn mit der Flasche ernähren.
Pipette in den Hals rammen.
Er wollte nicht mehr.
Hank war ein Kämpfer.
Aber irgendwann machte der Krebs alles kaputt.
Von einem Tag auf den anderen konnte er die Hinterbeine nicht mehr bewegen.
Schleppte sich trotzdem weiter.
Ich höre noch heute seine Pfoten über den Asphalt schrammen.
Ich hielt seinen Kopf in meinen Armen, als seine Augen brachen.
Sein fast weißes Auge färbte sich schwarz im Augenblick des Todes.
„Du weißt, dass das Leben endlich ist.“
Ich spreche es laut aus.
Schenke mir noch einen Whisky ein.
Es ist mir alles klar.
Wahrscheinlich klarer als vielen anderen.
Aber diese Endlichkeit kommt immer plötzlich.
Sich über Monate von einem sterbenskranken Partner zu verabschieden?
Grausam jedoch absehbar.
Plötzlich vor einem Menschen zu sitzen, der sein Leben aushaucht?
Dessen Aura du noch spürst.
Dessen Seele du fast greifen kannst.
Dessen Körper noch warm ist.
Und dessen Iris bricht?
Das ist schwarz.
Tiefschwarz.
RAL 9005.
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